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Heilige im Hochmoor

Das abgelegene Eiland Iona gilt vielen Schotten als die „Heilige Insel“. Die nach ihr benannte Iona Community gibt seit fast 70 Jahren religiöse Denkanstöße und praktische Vorbilder – und das weit über Schottland hinaus.   

Wenn die letzte Fähre von Iona abgelegt hat und der letzte Tagestourist verschwunden ist, dann wird es still auf der kleinen Insel. Nur Schafe kauen gemütlich ihr Gras und Wellen rauschen unentwegt am Strand. Abends pilgern Menschen über die kleinen Asphaltwegen in die Abtei von Iona. Die Kirche der Abtei ruht wie ein grauer Fels auf den sanften grünen Hügeln. Innen ist sie wie ein großes Gewölbe aus groben Steinblöcken. Kerzen leuchten in einem warmen Licht und es ist so, als wäre sie wieder da: die Zeit der Heiligen, Mönche, Wikinger, Könige und Märtyrer.

Die Kirche ist gut besucht, als der allabendliche Gottesdienst der Iona Community, der Gemeinschaft von Iona, beginnt. „Jeder mag hier während des Gottesdienstes beten und knien wie er möchte“, sagt Jane, die den Gottesdienst leitet. Jane sitzt in einem hölzernen Sessel, und trägt einen lilafarbenen Umhang. Die vielen englischen Lieder klingen in allen möglichen Akzenten, die Besucher kommen aus aller Welt. Beim Vaterunser aber darf jedermann in seiner Muttersprache sprechen. Später sagt Jane, jeder solle sich seinem Banknachbarn vorstellen. Hier sitzt mitten in der Gemeinschaft eine Frau mit grauen Haaren und blauen Augen, die eine grünblauer Outdoorjacke trägt. Sie heißt Kathy Galloway und ist „Leader“, also Leiterin der Iona Community.

Eigentlich hat Kathy Galloway ihr Büro in Glasgow. In Iona ist die Pfarrerin nur selten anzutreffen, etwa wenn sie hier in den alten Gewölben Besuchergruppen über ihrer Arbeit informiert. Galloway ist der erste weibliche „Leader“ in der Geschichte der Iona Community. 2002  wurde die feministisch und befreiungskirchlich geprägte Theologin für sieben Jahre gewählt. Schon ihr Vater war Mitglied der Gemeinschaft und ein großes Vorbild für Galloway. „Ich habe gesehen, dass meine Eltern in die Tat umgesetzt haben, was sie gepredigt haben“, erklärt sie.

Seit fast 70 Jahren besteht inzwischen die Iona Community. Ihr Gründer war Reverend George MacLeod, ein Pfarrer aus dem heute noch verrufenen Glasgower Stadtteil Govan. MacLeod erlebte in seiner Gemeinde die Folgen der wirtschaftlichen Depression der 20er Jahre. Er kam zur der Ansicht, dass die Botschaft der Kirche nicht mehr mit der Armut in Glasgow zusammen passte. Er gab den Anstoß, zusammen mit jungen Handwerkern und Theologen, die maroden Gebäude der mittelalterlichen Abtei von Iona wieder aufzubauen. 1938 begannen die Arbeiten in den Sommermonaten. Es war ein Neuanfang mitten in der Wiege christlich-keltischer Tradition, kritisch beäugt von der etablierten schottischen Kirche, die ein neues Mönchtum oder gar eine Katholisierung befürchtete. Anfangs war Iona eine Art Ausbildungsort für presbyterianische Geistliche und eine ausgesprochene Männerdomäne. Doch die Gemeinschaft öffnete sich über die Jahre zu anderen Religionen und gegenüber Frauen. 1967 waren die Aufbauarbeiten abgeschlossen.

Heute gibt die Arbeit der Iona Community ein sehr vielfältiges Bild ab. Einmal besteht sie aus ökumenischen Seminaren in der Iona Abtei und im MacLeod Gemeinschaftszentrum, das 1988 hinzu kam. Auf der benachbarten Insel Mull entstand das „Camas“ Camp für Jugendliche, die hier oft zum ersten Mal in der Wildnis ohne Elektrizität gemeinschaftliches Leben erfahren können.  Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit ist das Engagement für sozial benachteiligte Jugendliche in Glasgow, insbesondere für ehemalige Häftlinge. In Glasgow hat die Iona Community gleichzeitig auch ihre Basis. Dort besitzt sie einen eigenen Verlag, der zum Beispiel Gottesdienstmaterialien in alles Welt vertreibt. Nicht ohne Grund ist die Gemeinschaft weithin bekannt für ihre Liturgien und neue, einladende Gottesdienstformen. Die Iona Community engagiert sich schließlich sich für Friedensprojekte und die „Dritte Welt“. Es ist also kein Wunder, dass die Insel Iona für Kathy Galloway nur Teil eines großen Ganzen ist: „McLeod würde sagen, die Innenstadt von Glasgow ist genauso ein heiliger Platz wie Iona“, sagt sie. Wohl deshalb hat sie eine ganz nüchterne Meinung über die Insel. „Es ist unser Zuhause, aber hier hat es nicht angefangen. Das war in Glasgow.“ Für sie ist die Idee wichtig – was zählt sei Praxis,  meint sie: „Wir haben kein alltägliches und ein religiöses Leben – wir haben ein Leben.“ Denn viel Arbeit liegt vor ihrer Haustür. Glasgow ist immer noch der soziale Brennpunkt in Schottland. Und auf Iona? „Dort geht es darum gemeinsame Erfahrungen zu machen. Die Leute waschen gemeinsam Ihr Geschirr ab, müssen Toiletten reinigen, nehmen an Gottesdiensten teil und machen Pilgerwege.“

Für Außenstehende ist die Iona Community, die auch von der Church of Scotland durchaus anerkannt und geschätzt ist, schwer zu erfassen. So bestehen in der Gemeinschaft verschiedene Formen der Zugehörigkeit. Es gibt Mitglieder, Assoziierte und Freunde. Die Voll-Mitglieder unterstellen sich freiwillig fünf „rules“, also Regeln. Sie umfassen tägliche Gebete und Bibelstudien. Die Mitglieder sollen an regelmäßigen Treffen teilnehmen,  Engagement für Gerechtigkeit und Frieden zeigen. Sie verpflichten darüber hinaus, mit Zeit und Finanzen verantwortlich umzugehen, diese zu teilen und offen zu legen. Dieletztgenannten beiden Regeln sind in der heutigen Zeit wohl die größten Zugeständnisse im Alltag. Auch für Kathy Galloway. Sie muss zehn Prozent ihres verfügbaren Einkommens (Nettoeinkommen abzüglich Ausgaben wie Versicherung und Miete) an die Gemeinschaft spenden und Rechenschaft über ihren Zeitaufwand abgeben.  „Es ist eine sehr fordernde Sache, auf die ich mich einlasse“, bekennt sie. Und weiter: „Das ist schon eine sehr schwierige Angelegenheit. Du musst den Leuten sehr viel Vertrauen schenken.“ Zugleich kann nicht jeder, der möchte, Mitglied der Community werden. Jedes Jahr kommen rund ein Dutzend hinzu. Diese machen – ähnlich wie Novizen - ein zweijähriges Kennenlernprogramm durch, um überhaupt in den Kreis aufgenommen zu werden.  Gelübde wie das der Enthaltsamkeit bei Mönchsorden kennt die Gemeinschaft aber nicht. Jeder erneuert jährlich seine Mitgliedschaft, oder eben nicht. Selbst Kathy Galloway hat schon ein Jahr pausiert. Für sie ist die Iona Community kein exklusiver Club: „Es ist wie eine große Familie.“ Die kleine Anzahl von Neulingen habe praktische Gründe: „Wir wollen nicht, dass es unübersichtlich wird. Wir rekrutieren nicht.“ Weniger reglementiert geht es bei assoziierten Mitgliedern zu. Sie verpflichten sich auf Gebete und Bibelstudien, können aber auch an den ökonomischen Regeln teilhaben. Sie unterstützen die Gemeinschaft finanziell und ideell.

Eigentlich gibt es drei verschiedene Gesichter der Insel. Einmal gibt es die Insel der Touristen. Jährlich ziehen Tausende von Tagestouristen vorbei an den berühmten keltischen Hochkreuzen. In den Shops kaufen sie diese in Silber oder als Lesezeichen, dazu erbauliche Bücher. Dann gibt es das Iona der rund einhundert Einheimischen. Nur wenige sind Mitglieder der Iona Community, aber viele leben vom Tourismus. Und dann gibt es die Seminarteilnehmer in der Abtei und dem McLeod Center. Rund 3000 von ihnen besuchen Iona in einer Saison. Für sie sorgt Richard Sharples, der Hausherr der Iona Abtei. Der Methodisten-Pfarrer kümmert sich um die etwa 25 ständigen Mitarbeiter und die freiwilligen Helfer der Iona Community auf der Insel. Er führt auch Pilgertouren über die Insel. Dabei schreiten die Pilger an spirituell wichtigen Plätzen vorbei, etwa an den Ort, an dem St. Columba mit seinem Boot landete. Die Pilger sprechen Bibeltexte, singen Lieder. Hartgesottene Naturen waten sogar durch die sumpfigen Hochmoore der Insel. „Das kann sehr effektvoll sein,“ sagt Sharples. Selbst Tagestrips nach Iona hätten den Charakter einer Pilgerfahrt - es sei ein schrecklich weiter Weg hierher. Aber es sei sehr wichtig, Leute aus der ganzen Welt hier auf einem Platz zu versammeln. „Dies ist ein Platz zum experimentieren, eine Art Labor“, schwärmt er.

Der Weg zum gemeinsamen Mittagessen im Klosterrefektorium führt durch den Kreuzgang entlang verwitterter Grabsteine. Dann kommt ein großer Raum mit Tischen und Sitzbänken. Eine Musikergruppe aus Südafrika trommelt begeistert und selbst die britischen Gäste beginnen zu tanzen. In einer Ecke blickt derweil die Bronzebüste von George McLeod ernst auf das Geschehen. Anschließend schöpfen Helfer Suppe aus großen Bottichen. Zum Nachtisch gibt es schottische Scones mit Marmelade. Hier unter den Teilnehmern ist David Cherry. Er ist Kaplan an der Westminster University in London. Er sagt: „Das ist ein einzigartiger Ort, wo einer den andern kennen lernen kann. Ein Ort, wo man das christliche Leben weiterleben sieht“. Heute sei er auf einem wundervollen meditativen Spaziergang zur Bucht der Märtyrer gewesen, schwärmt er. Gemeinsame Gottesdienste, Ausflüge, gemeinsames Arbeiten, einfaches Leben – das sind die Grundpfeiler der Tage hier auf Iona. Sioned William ist Lehrerin aus Wales. Als Seminarteilnehmerin muss sie Aufgaben wie Toilettenputzen und Sandwiches machen übernehmen. Sie sagt: „Ich habe nie so viele Christen verschiedenartiger Herkunft kennen gelernt. Hier lernt man andere zu tolerieren.“

Hier beim Essen ist auch Daniel Koppehl aus Wittenberg. Er arbeitet seit ein paar Wochen als Hausmeister auf Iona. Er macht Betten, säubert Zimmer und putzt Böden. „Ich suchte ein Angebot, eine Arbeitsstelle im Ausland, wollte mal weg aus Wittenberg“, erzählt der junge Helfer. Seine Tante sei vor zehn Jahren schon einmal hier gewesen. „Als ich hier ankam hat es mir sofort gefallen“, gesteht Daniel. So viel Freundlichkeit und Höflichkeit – das sei wie ein Geschenk. „Es ist ganz einfache Arbeit, trotzdem etwas ganz besonderes“, sagt er. Auch die Gottesdienste genieße er, selbst wenn er persönlich eher etwas konservativer sei und es hier tendenziell eher um Gefühle gehe. Hin und weg ist er von der Landschaft: An einem freien Tag ist er auf den höchsten Berg der Insel geklettert und hat den Ausblick auf eine dramatische Regenfront, die an ihm vorbei zog, genossen. Ein Traum von einem Job.


Iona – die winzige Hebrideninsel an der schottischen Westküste (Länge 3 Meilen) ist über Jahrhunderte Pilgerstätte und religiös-geistliches Zentrum gewesen. Hier landete im Jahre 563 n. Chr. der Heilige Columban. Der aus Irland stammende Heilige begründete mit der Abtei eine einzigartige keltisch – christliche Tradition. Heute noch zeugen davon nicht nur die steinernen Hochkreuze, sondern möglicherweise auch das berühmte Evangeliar „Book of Kells“. Iona war mit einer der Ausgangspunkte für die iro-schottische Mission Europas, also auch Deutschlands. Später lebten Benediktinermönche in der Abtei, nach der Reformation verfiel sie. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts begann die Church of Scotland die Restauration.  An den Geist all dieser Traditionen knüpfte 1938  der Gründer der Iona Community Georg McLeod an, als er die Abtei wieder aufbauen ließ und sie zu einem Zentrum der Gemeinschaft machte. Die Iona Community ist eine ökumenisch-christliche Gemeinschaft. Sie kümmert sich um religiöse Erneuerung der Kirche, um Fragen von Politik und Gerechtigkeit, sowie um Unterstützung in der Suche nach Spiritualität. Es gibt etwa 250 volle und 1500 assoziierte Mitglieder, dazu 1500 Freunde der Gemeinschaft. Darunter sind Theologen, Doktoren, Künstler, Musiker und andere Mitglieder, die oft theologisch interessiert sind. Die Gemeinschaft unterhält drei Zentren: Die Abtei und das McLeod Centre auf und ein Jugendcamp auf der Nachbarinsel Mull. Schwerpunkt der Arbeit ist darüber hinaus das Engagement für sozial benachteiligte Jugendliche in Glasgow, wo die Gemeinschaft ihre Basis hat. Außerdem gehört der Community ein Verlag. Auch in Kontinentaleuropa wie etwa in Deutschland, Schweiz und den Niederlanden leben mehrere Vollmitglieder und circa hundert assoziierte Mitglieder.

Die Website der Iona Community: www.iona.org.uk

Die Gemeinschaft von Iona in Deutschland: http://www.ionacommunity.de/

Reisemöglichkeiten (ca. 4 1/2 Std.): Per Bahn, Auto oder Bus von Glasgow nach Oban. Von dort aus mit der Fähre auf die Insel Mull. Dort besteht eine Buslinie zur Iona-Fähre. Auf Iona sind Autos für Besucher nicht zugelassen.
Infos unter: info@oban.visitscotland.com
0044 – 1631 563122

Literatur: Ronald Ferguson: Chasing the Wild Goose, The Story of the Iona Community, Wild Goose Publications, Glasgow 1998.